Charakter und Entwicklung

Charakter und Entwicklung

von Dr. Christian Marettek

Aus Sicht der Managementforschung ist der individuelle Charakter des einzelnen Menschen ein eher sekundäres Thema – weil gute Führungsarbeit unabhängig vom Charakter der Führenden, genauso wie vom Charakter des Geführten sein sollte! Wenn also mit der nötigen Sensibilität für die individuellen Unterschiede und die Würde jedes Menschen gehandelt wird (was langfristig im Interesse aller Beteiligten ist).

Wenn man sich in der zweiten Lebenshälfte befindet – und wie der Autor auf 25 Jahre im Beruf zurück blicken kann – dann interessiert vielleicht doch, ob man individuelle Charaktertypen identifizieren kann.

Fünf Persönlichkeitsdimensionen (Big Five)

Aus Sicht der Wissenschaft werden folgende Dimensionen unterschieden: vgl. Jarrett/Ginsburg 2016, Psychologie, S. 116

  • Grad der seelischen Stabilität
  • Grad der Introvertiertheit bzw. Extrovertiertheit
  • Offenheit für Neues
  • Kooperationsbereitschaft
  • Grad der Gewissenhaftigkeit.

Hieraus abgeleitet wurden verschiedene Typen entwickelt, wie z.B. das DISG-Modell.

Sowohl in der christlichen Tradition als auch in der Lehre der islamischen Sufi-Orden existiert darüberhinaus die alte Lehre des Enneagramms, die im Folgenden näher erläutert wird, vgl. Jörg Berger 2008, Das 9×1 des Charakters, Gottes Bild von mir entdecken, S. 12f. (Berger ist Dipl.-Psychologe und Psychotherapeut an der Klinik Hohe Mark in Oberursel und gehört einer Evang.-freikirchlichen Gemeinde an).

Neun Charakterbeschreibungen im Enneagramm

Das Enneagramm versucht eine Antwort auf die Frage, warum wir Menschen in unserer Auseinandersetzung mit dem Leben immer wieder nur auf unser Ego treffen – und nicht zu Gott als dem Ganz-Anderen durchstoßen. Der moderne Mensch wird vielleicht überrascht sein, aber das Enneagramm geht von neun Wahrnehmungsstilen/ Leidenschaften/ Wurzelsünden aus, also von einem eher negativ-realistischen Menschenbild, vgl. Rohr/Ebert 2001, Das Enneagramm, S. 35ff.; Berger 2008, S. 13, und formuliert dazu spirituelle Entwicklungsperspektiven:

  1. Ich habe recht (Wachstumsbringer)/ Leidenschaft Sehnsucht nach Vollkommenheit, Wurzelsünde Zorn. Erlöste 1er entdecken die Gnade.
  2. ich helfe (Gemeinschaftsstifter)/ Sehnsucht nach Unzertrennlichkeit/ Stolz, Erlöste 2er nehmen Christus in sich auf.
  3. ich habe Erfolg (Hoffnungsträger)/ Sehnsucht nach Wirkung/ Lüge. Erlöste 3er kommen bei Gott an.
  4. ich bin anders (Sinneswecker)/ Sehnsucht nach Echtheit/ Neid. Erlöste 4er nehmen Jesus in ihr Herz.
  5. ich blicke durch (Brückenbauer)/ Sehnsucht nach Verbundenheit/ Habsucht. Erlöste 5er entfachen ein inneres Feuer.
  6. ich tue meine Pflicht(Vertrauensstifter)/ Sehnsucht nach Sicherheit/ Furcht. Erlöste 6er finden den Weg zur Freiheit.
  7. ich bin glücklich (Freudenboten)/ Sehnsucht nach Lebensfreude/ Völlerei. Erlöste 7er finden im Leid eine Tür zu Gott.
  8. ich bin stark (Freiheitskämpfer)/ Sehnsucht nach Stärke/ Schamlosigkeit. Erlöste 8er entdecken Schwäche als Stärke.
  9. ich bin zufrieden (Friedensstifter)/ Sehnsucht nach innerem Frieden/ Faulheit. Erlöste 9er finden die Energiequelle.

Persönliche Wertung aus Sicht eines Christen

Bestechend am Enneagramm: Ausgehend vom Selbstbild der neun Charakter und der Wurzelsünde werden die Entwicklungsperspektiven im Sinne einer ganzheitlichen Reifung als Persönlichkeit (sowie als Kind Gottes im Sinne des christlichen Glaubens) beschrieben. Die Schönheit und Größe Gottes als Summe der Charaktergruppen fasziniert mich auch. Es ist klar, dass aus Sicht der Gläubigen alle Charaktergruppen zusammen in Jesus Christus verkörpert werden.

Nach Einschätzung des Autors besteht jedoch natürlich die Gefahr derartiger Typologien, dass man dem konkreten Menschen nicht mehr gerecht wird – und dass man sich als Berater oder Vorgesetzter überlegen fühlt, und damit Gott und den Kollegen verliert. Das gilt insbesondere, wenn man dies als eine Selbsterlösungsreligion betrachten würde (nach christlicher Überzeugung ist jeder Mensch erlösungsbedürftig, die Erlösung ist Gnade Gottes und kann nicht selbst erarbeitet werden).

Trotzdem ist das Enneagramm nach meiner Einschätzung eine der wenigen psychologisch aussagekräftigen Charaktertypologien. Überzeugend ist auch die ganzheitliche Sicht, dass Stärken zugleich auch Schwächen mit sich bringen.

Persönliche Erfahrungen mit dem Enneagramm

Eine angemessene christliche Interpretation: Der Autor ist nach Einschätzung zahlreicher Freunde „eine 1“. Die damit verbundene Wurzelsünde Zorn habe ich vor 12 Jahren, als ich das Buch von Rohr/Ebert erstmals las, innerlich noch nicht akzeptieren können – während meine Rechthaberei schon damals auch für mich nicht zu übersehen war. 12 Jahre später habe ich noch mal hineingeschaut und festgestellt, dass das zornige Ringen um Wachstum tatsächlich für meinen Charakter typisch ist (und ich hart daran arbeite, den Zorn zu verarbeiten). Und dass ich mich im Leben auch mit Unvollkommenheiten zufrieden geben muss.

Trotz dieser recht guten Erfahrungen kann ich mir wirklich kaum eine Relevanz für den Umgang mit komplexeren Familienstrukturen oder Arbeitsplatz – vorstellen. Zu komplex für den Alltag, als Anwendung bleibt die Einzel-Seelsorge.

Herkunft des Enneagramms

Das Enneagramm geht auf die Lehre der christlichen Wüstenväter des 4. Jahrhunderts zurück, insbesondere auf Evagrius Ponticus (345-399 n.Chr.), der lange in der ägyptischen Wüste lebte und in der Tradition des Antonius (1. Wüstenvater) bzw. der allegorischen Bibelauslegung nach Origines stand. Über Armenien, wo Evagrius heute noch verehrt wird, gelangte seine Lehre zu den persischen Sufi und wurde dann erst wieder im 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Eine zweite christliche Gestalt, deren Werk verblüffende Ähnlichkeit mit der modernen Enneagramm-Kunde vorwegnimmt, ist Ramon Lull (1232-?), Palma de Mallorca, Mitglied des 3. Franziskaner-Ordens, der für Verheirate offen stand. Lull hat sich um eine neue Sprache der Spiritualität bemüht, um in der Zeit der Zwangsbekehrung mit dem Schwert (Reconquista) einen auf Respekt und Rationalität basierenden Dialog mit Juden und Moslems zu erreichen.

Vgl. ausführlich das Buch von Richard Rohr und Andreas Ebert 2001, Das Enneagramm, Die neun Gesichter der Seele, 37. Aufl., S. 23 und 29 (Rohr ist katholischer Priester und Franziskaner in Albuquerque New Mexico, Ebert evangelisch-lutherischer Pfarrer in München).

Zusammenfassende Einschätzung des Enneagramms

Seit Mitte der 80er Jahre ist eine Reihe von Büchern erschienen, die zum Teil aus der Arbeit christlicher Ordensleute in USA hervorgingen – teilweise aber viel stärker durch die humanistische Psychologie bestimmt sind. Auch wenn der erste internationale Enneagramm-Kongress 1994 an der psychologischen Fakultät der renommierten kalifornischen Stanford-Universität stattfand und erste klinische Studien dazu stattfinden –  kann das Enneagramm noch nicht als wissenschaftlich erhärtet gelten. Rohr/Ebert 2001, ebenda S. 35, betonen, dass die Vermischung von Psychologie, Spiritualität und Theologie zwar jene stört, die auf eine methodisch saubere Trennung dieser verschiedenen Zugänge zur Wirklichkeit bemüht sind – während das Enneagramm gerade eine Brücke zwischen Psychologie und Spiritualität schlagen kann.

Nach Überzeugung des Verfassers ist es gerade für das 21. Jahrhundert von Bedeutung, die weitgehend vergessenen Schätze der christlichen Spiritualität – z.B. beim Ringen um wirklich weise Entscheidungen als Führungskraft – wieder zu entdecken. Allerdings hat der christliche Glaube Führungskräften nach meiner Einschätzung viel mehr zu bieten als das Enneagramm.

Ob hierzu tatsächlich das Enneagramm vielleicht beim Interreligiösen Dialog helfen kann, bleibt abzuwarten. In jedem Fall bin ich davon überzeugt, dass ein Interreligiöser Dialog nur Wegweisend sein wird, wenn jeder Glaube authentisch gelebt wird, d.h. ohne jede Einschränkung sollte das christliche Glaubensbekenntnis gelebt werden, das Enneagramm ist insoweit ein Randproblem.