Entscheidungen

Weise Entscheidungen als ständige Herausforderung für Führungskräfte

Zum Thema Entscheidungen von Führungskräften hat die Betriebswirtschaftslehre über viele Jahrzehnte extrem unterschiedliche Ansätze verfolgt: Von der Unternehmensforschung bis zur Spieltheorie. Vereinfachend kann man nach Einschätzung des FIDES-Autorenteams die verschiedenen Entscheidungskalküle folgendermaßen systematisieren:

  • Im Kern mathematisch-mikroökonomisch begründete ökonomische Kalküle: Von Minimax über Maximax bis zur Nutzenoptimierung bei Unsicherheit und den spieltheoretischen Ansätzen. Neben den präskriptiv-normativen Entscheidungstheorien existieren auch psychologisch ausgerichtete deskriptive Entscheidungstheorien.
  • Unabhängig davon existieren in der Praxis primär rechtlich begründete Entscheidungsansätze. So wird z.B. in der Fallstudie 9 (Mobbing-Vorwürfe) die Entscheidung der Bürgermeisterin erläutert, die am ehesten rechtlich begründet ist (ähnlich einer rechtlich tragfähigen Kompromisslösung).
  • Überwiegend opportunistisch begründete Entscheidungskalküle sind besonders weit verbreitet. Dazu gehören nicht nur Entscheidungen, die Politiker häufig im Hinblick auf den vermuteten Einfluss auf ihre Wiederwahl-Chancen treffen – sondern gerade auch politische Entscheidungen in gewerblichen Konzernen: die Entscheider orientieren sich vereinfachend gesagt anhand der vermuteten Auswirkungen auf die eigene Karriere.
  • Schließlich treffen auch Führungskräfte Entscheidungen, die überwiegend aufgrund des jeweils vertretenen philosophischen Gedankengebäudes bzw. Ideologie entstanden sind (jenseits der Ökonomie, des Rechts und der Opportunität).

Die jüngere psychologische Sicht der Entscheidungssituation wird in jüngster Zeit stark durch Erkenntnisse der Gehirnforschung bzw. Neurowissenschaften beeinflusst. Vgl. z.B. den Überblick bei Holger Schulze und Simone Kurt, Entscheidungsfindung aus neurowissenschaftlicher Sicht, in Wirksame Menschenführung, hrsg. von Rolf Meier, S. 306-316.

Bis Mitte der 80er Jahre sind auch in der internationalen Managementliteratur kaum Ansätze für eine konstruktive Bewältigung von Widersprüchen zu erkennen. Vgl. Müller-Christ 2014, Nachhaltiges Management, 2. Aufl., S. 246.

Blessin/Wick 2014, Führen und führen lassen, 7.Aufl., S. 450, erläutern unter dem Stichwort „Ambiguität“ – ganz am Ende ihres Buches: „Alle Modellvoraussetzungen der Konstruktion rationalen Entscheidens (vollständige, aktuelle und kostenlose Information über Handlungsmöglichkeiten, Umweltzustände und Präferenzen; Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit der Entscheidungsregeln) sind unter empirischen Bedingungen unhaltbar. Kontingenz und Komplexität sozialer Systeme lassen trivialisierende Lenkungsvorstellungen als naives Wunschdenken erscheinen (…). Es charakterisiert die Entscheidenden, dass nahezu nichts exakt, eindeutig, objektiv, unstrittig und völlig bekannt ist. Ein- und Mehrdeutigkeit sind oft keine vorgefundenen Zustände der Welt, sondern werden in taktischer Absicht erzeugt, um eigene Handlungsspielräume zu sichern und auszubauen und fremde Einsicht und Planung zu erschweren.“

Erst in letzter Zeit wurden die ersten fundierten Annäherungen der Managementforschung an die Themen „Weisheit“, „Intuition“ und „Widersprüche“ vorgelegt.
Zu diesen Themen empfiehlt das FIDES-Autorenteam insbesondere folgende Beiträge:


1. Janice Marturano 2015Mindful Leadership, Ein Weg zu achtsamer Führungskompetenz, S. 19-24, hat zahlreiche Erfahrungen mit vielbeschäftigten Führungskräften ausgewertet, die darauf hindeuten, dass

  • wirklich weise Entscheidungen eines Führungsteams bei schwierigen, hochkomplexen Problemlagen eher dann zustande kommen, wenn – trotz des stets bestehenden Zeitdrucks – meditative Auszeiten eingebaut werden
  • in diesen Auszeiten die Führungskräfte auf ihre individuellen Intuitionen lauschen – und damit auch die bisweilen verschütteten persönlichen Erfahrungsschätze der Vergangenheit aus dem Unterbewusstsein reaktivieren bzw. auf die aktuelle Entscheidungssituation intuitiv richtig anwenden können.

Ziel der achtsamen Führungskompetenz ist es, sich und andere mit Exzellenz zu führen und dabei die kollektive Erfahrung und Intuition für Entscheidungen zu nutzen (vgl. ebenda S.19). Maturano ist davon überzeugt, dass Führungsteams häufig zu viele Sitzungsmarathons absolvieren – welche Kreativität und Weisheit bisweilen durch zu viele ausgesprochene Worte eher behindern (vgl. ebenda S. 16 und 21) – einfach weil Entspannungsphasen notwendig sind, damit die reflexiven und intuitiven Fähigkeiten des menschlichen Geistes überhaupt wirken können.

Nach derartigen Retreats, in denen Führungsteams Meditationstechniken erlernt haben, merken übrigens fast immer gerade die Mitarbeiter der Führungskräfte deutliche positive Veränderungen im Hinblick auf die Fähigkeiten der Führungskräfte, vor allem wirklich präsent zu sein und besser zuzuhören (und dann tatsächlich weise zu entscheiden; Vgl. ebenda S. 26):

„Eine achtsame Führungskraft verkörpert Führungspräsenz, indem sie Konzentration, Klarheit, Kreativität und Mitgefühl zum Wohle anderer entwickelt.“  Marturano 2015, Mindful Leadership, Ein Weg zu achtsamer Führungskompetenz, S. 24.

Auch wenn das Konzept nicht primär zur Stressbewältigung entstanden ist – sondern um die kollektive Erfahrung und Intuition für Entscheidungen zu nutzen (vgl. ebenda S. 19), gibt es dennoch empirische Indizien, dass eine derartige Achtsamkeitspraxis tatsächlich auch zu mehr Widerstandsfähigkeit führt (Resilienz), um die Herausforderungen des Lebens mit mehr Gelassenheit zu überstehen (vgl. ebenda S. 31).

Diese Neuerscheinung ist nach Überzeugung des FIDES-Projektteams eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Managementliteratur des Jahres 2015 und bestätigt auch eigene Berufserfahrungen unseres Teams: häufig konnten gerade nach Auszeiten (einem Heraustreten aus dem kontinuierlichen Sitzungstress) die besten bzw. überzeugendsten Problemlösungen gefunden werden.

Im Werk „Mindful Leadership“ geht die Autorin auf die Achtsamkeit der Führungsperson ein und gibt besondere Anleitungen zu „Meditativen Pausen“ zur Förderung der Aufmerksamkeit innerhalb eines achtsamen Führungs- und Arbeitsstiles.

Die Praxis, absichtlich Zeiträume frei zu halten wurde zu einer Schlüsselerfahrung der Gruppe dafür, wie Atempausen Innovationen beflügeln.

(Vgl. Janice Marturano 2014, Mindful Leadership, S. 79f)


2. Gerd Gigerenzer 2008, Bauchentscheidungen, Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, 8. Aufl.:

Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und habilitierter Psychologe

Intuition ist ein gefühltes Wissen, dass plötzlich ins Bewusstsein gelangt, dessen tiefere Gründe man selbst nicht kennt und das dennoch stark genug ist, um zum Handeln zu bewegen.

In einer ungewissen Welt müssen gute Intuitionen Informationen außer Acht lassen. (Gigerenzer 2008, Bauchentscheidungen, Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, 8. Aufl.)


3. Daniel Kahneman 2012, Schnelles Denken, langsames Denken, 3. Aufl.

Nobelpreis für Wirtschaft 2002 (als erster Nicht-Ökonom), Professor für Psychologie an der Princeton University, einer der weltweit einflussreichsten Kognitionspsychologen.


4. Georg Müller-Christ 2014, Nachhaltiges Management, 2. Aufl., S.8 u. 361ff.

Der Bremer Betriebswirt konzentriert sich ausführlich auf die Bewältigung komplexerer und dilemmatischer Entscheidungsprozesse. Müller-Christ systematisiert das Widerspruchsmanagement einschließlich der philosophischen Grundlagen (vgl. den Baukasten für ein Widerspruchsmanagement unter Rückgriff auf Remer, ebenda S. 280).

Grundlegend beschreibt Müller-Christ die Entscheidungsprämissen (Kriterien und Handlungsrationalitäten) der Betriebswirtschaftslehre bzw. ihrer historischen Hauptströmungen: (vgl. ebenda S. 361)

  • Funktionalität der Produktion (BWL Gutenbergs): es muss funktionieren!
  • Produktivität und Effizienz: es muss sich rechnen!
  • Legalität: Es muss legal sein!
  • Es muss moralisch einwandfrei sein! (Sozialverträglichkeit)
  • Nachhaltigkeit: Es muss die Substanz erhalten bleiben!

Auf den folgenden 120 Seiten werden die charakteristischen Entscheidungstypen kategorisiert. Dabei geht es insbesondere darum, trotz der in der Praxis vorzufindenden Widersprüchlichkeit, die sich infolge der verschiedenen Rationalitäten ergibt, konstruktive Entscheidungen zu treffen. Das Buch schließt mit der Methode WIPOLOG (entwickelt zusammen mit Birgit Bergmann; vgl. ebenda S. 438ff.), mit der das was nicht erreicht wird (Trade-off) konstruktiv bewältigt werden soll:

  1. WI: Akzeptiere den Widerspruch
  2. PO: Benenne die Pole
  3. LOG: Identifiziere die logischen Möglichkeiten
  4. Ermittle den Trade-off (der wirkliche Preis der gezahlt wird)
  5. Definiere das Minimum (bezogen auf den Ressourceneinsatz, z.B. Burn-out)
  6. Hole die Legitimation (dafür dass etwas liegenbleibt bzw. nicht erreicht wird)
  7. Würdige das Manko! (damit auch die, die den Preis bezahlen müssen) – sonst müssen alle „um den heißen Brei herumreden“ – positives Organisationsklima.

Schließlich verlangt Müller-Christ von den Führungskräften eine gewisse „spirituelle Kompetenz“ um insbesondere ressourcenschonende Langfristentscheidungen zu treffen. Spiritualität wird definiert als „eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung“ (vgl. ebenda S. 448; nicht zwangsläufig christlich gemeint).