Bedürfnisse

Bedürfnisse des Menschen: Überblick über die wichtigsten psychologischen Konstrukte

von Manuel Hipfel und Dr. Christian Marettek

Psychologie und Medizin haben in den letzten Jahrzehnten eine heterogene und bunt schillernde Literatur zum Thema „Bedürfnisse des Menschen“ hervor gebracht.

Zunächst eine Definition von Bedürfnis:

Sammelbegriff für materielle und nichtmaterielle Dinge oder Zustände, die für Individuen unumgänglich notwendig sind oder von ihnen angestrebt werden.“ Schubert/ Klein 2011, Das Politiklexikon, 5. Aufl., S. 30

Die bekanntesten Theorien und deren Begründer sind hier im folgenden kurz beschrieben.

 


Bedürfnistheorie von Maslow

Eine häufig zitierte Bedürfnistheorie ist der Ansatz von Maslow. Die bekannte Maslowsche Bedürfnispyramide wird von Ott folgendermaßen in Deutsch widergegeben:

 Bild in Originalgröße anzeigen  Vgl. ausführlich Wikipedia . Feststellung bzw. Sichtbarmachung der Bedürfnisse in der Praxis stützen sich auf die These:

Bedürfnisse sind an ein Mangelgefühl oder ein akutes Bestreben geknüpft.

Zitat: „Indem der Mensch sich Bedürfnisse erfüllt, erreicht er einen hohen Grad an Reife. Gesundheit und Selbsterfüllung.“
Vgl.  Al Weckert 2011, Spektrum der Mediation S.30


Bedürfnistheorien von Alderfer und Max-Nee

Alderfer hat auf der Basis von Maslows Bedürfnistheorie die Bedürfnisse neu differenziert in Existenzbedürfnisse, Beziehungsbedürfnisse und Wachstumsbedürfnisse. (später von Manfred Max-Nee mit „Kulturbedürfnisse“ und „Naturbedürfnisse“ ergänzt.)
Vgl.  Weckert 2011, Spektrum der Mediation , S.31


Bedürfnistheorie auf Basis des Kohärenzgefühls nach Antonovski und Coutu

Der kognitiven Bedürfnistheorie nach Maslow, welche eine eher problemorientierte (Symptom analysierende) Theorie ist, werden seit einigen Jahren gehäuft „ganzheitliche“, positiv-bestärkende Theorien gegenübergestellt.
Die Betrachtung des Menschen nach Antonovski und die von diesem entwickelte Salutogenese stellt vielleicht die wichtigste ganzheitliche Bedürfnistheorie dar. Danach ist das gesamte, menschliche Wohlbefinden an dessen Kohärenzgefühl (Sense of Coherence SOC) gebunden. Dieses setzt sich aus der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit und dem Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit zusammen. Vgl. Antonovski 1997, Salutogenese, Zur Entmystifizierung der Gesundheit; Antonovski 1979, Health, Stress, and Coping, New Perspectives on Mental and Physical Well-Being. Der Sinn für Kohärenz ist angeboren, das Kohärenzgefühl entsteht durch Beziehungen, durch zwischenmenschliche Kommunikation. Deshalb ist Kommunikation im sehr weiten Sinne das entscheidende Instrument zur Anregung bzw. Erzeugung von Kohärenzgefühl. Die Bedürfnisse sind dann auf die Förderung des persönlichen Kohärenzgefühles beschränkt. Vgl. Wikipedia Salutogenese

Die vielleicht interessanteste Integration der Salutogenese in die deutsche Managementlehre findet sich bei Georg Müller-Christ 2014, Nachhaltiges Management 2. Aufl., S. 345: Ein Kohärenzgefühl und eine entsprechende Lebenserfahrung führen danach zu generalisierten Widerstands- bzw. Resilienzressourcen, die eine effektive Spannungsbewältigung des Einzelnen ermöglichen können. Ein derartiges Ressourcenmanagement beinhaltet zwangsläufig eine gewisse Rücksichtnahme auf die Ressourcen der MitarbeiterInnen – dadurch wird Rücksichtnahme rational und nicht mehr normativ begründet (vgl. Müller-Christ ebenda S. 357). Müller-Christ zitiert ebenda S. 345, auch D.L. Coutu: Resiliente Menschen sind durch eine unerschütterliche Akzeptanz der Realität gekennzeichnet – durch einen tiefen Glaube daran, dass das Leben sinnvoll ist – und durch eine erstaunliche Fähigkeit zu improvisieren. Vgl. D.L. Coutu 2002, How Resilience Works, Harvard Business Review, May 1, 2002, pp.2-7.


Zwischen-Fazit

Eine aktuelle Zusammenfassung der bunt schillernden Literatur Bedürfniserfassung liefert Weckert 2011 Spektrum der Mediation S. 31-32, der auch eine knappe Überleitung zum Thema Arbeitszufriedenheit bietet: „Die Psychologen Maslow (geb. 1908) und Alderfer (geb.1940) hatten den Bedürfnisbegriff in den in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts „aus der Schmuddelecke  geholt. Die Friedensaktivisten Max-Nee (geb. 1932) und Rosenberg (geb,1943) haben wegweisende Ideen formuliert, wie wir das Bedürfnisvokabular in der Mediation nutzen können. Meiner Einschätzung nach werden die nächsten prägenden Impulse von Neurobiologen und Gehirnforschern ausgehen, die den menschlichen Motivationssystemen immer genauer auf die Spur kommen. Denn Bedürfnisse weisen nicht nur auf Mangel hin, sondern auch auf Potenziale“.

Weckert 2011 Spektrum der Mediation S. 32, zitiert hierzu abschließend Gerhard Hüther:

„Wir haben uns weit voneinander entfernt und dabei manchmal vergessen, dass wir miteinander verbundene, voneinander abhängige und aneinander wachsende Einzelwesen sind. Jetzt finden wir allmählich unsere gemeinsamen Wurzeln wieder und beginnen ganz langsam zu verstehen, dass wir alle mit den gleichen Bedürfnissen (…) unterwegs sind, aIle Menschen, überall auf der Welt. Das ist neu. Das gab es so, in dieser globalen Weise, noch nie. (Gerhard Hüther, in: „Was wir sind und was wir sein könnten“).

Schließlich systematisiert Weckert 2011, Spektrum der Mediation S. 32, noch folgende Bedürfnisse:

Bedürfnisse-Übersicht Weckert


Was kann man aus den Bedürfnistheorien für die alltägliche Führungsarbeit lernen?

Die lange Liste von Weckert kann sicherlich kein Mensch kontinuierlich im Blick haben – da wäre jeder Führende überfordert.

Nach unserer Überzeugung helfen dazu eher ganzheitlichere Kategorisierungen, wie sie für das aktuelle FIDES-Projekt konzipiert wurden:

Art des WohlbefindensZugehörige Hauptbedürfnisse   
KörperlichesGesundheit, Ernährung, Sexualität
GeistigesBedeutung, Sinn, Freude an eigener Leistung
SozialesGemeinschaft, Bestätigung, Vertrauen

Die Tabelle interpretiert die körperlichen, sozialen und geistigen Bedürfnisse im Sinne der Salutogenese als Art des Wohlbefindens in andauernder Wechselwirkung mit der Gefühlslage der Person (Gemütszustand, Freude).

Wenn man dann noch beachtet, dass die körperlich ausgerichteten Bedürfnisse in Europa weitgehend gesichert sind – und am Arbeitsplatz sowieso keine tragende Rolle spielen – dann bleiben für die praktische Führungssituation insbesondere drei Hauptbedürfnisse relevant:

Folgende drei Bedürfniskategorien können (und sollten) in der Führungspraxis im Blick bleiben; es handelt sich um die (berechtigte) Sehnsucht jedes Menschen nach:

  • Bedeutung/Sinn 
  • Bestätigung durch andere
  • und nach Gemeinschaft.

Zur wichtigen Bedürfniskategorie Bedeutung/Sinn vgl. zuletzt ausführlich Burkhardt Radtke 2015, Führend führen, S. 19 u. 42f., der sein Buch sogar mit dem Kapitel „Sinn durch Orientierung“ beginnt.

Die genannten, am Arbeitsplatz relevanten Hauptbedürfnisse – die übrigens für die/den Führende(n) genauso gelten, wie für die/den Geführte(n) – lassen sich aus zahlreichen Arbeiten der Managementforschung ableiten, wie an anderer Stelle gezeigt; vgl. Marettek 2013, Wirksames Management für öffentliche Einrichtungen, S. 83ff.

Wenn man genauer hinschaut, handelt es sich um die wichtigsten immateriellen Werte, die mit der Arbeit in Verbindung gebracht werden. In jedem Fall spielt die Qualität der menschlichen Beziehungen, die auf der Arbeit erlebt werden kann, offenbar eine dominante Rolle.

Folgerungen für die Situation am Arbeitsplatz

Hierzu gibt es eine ausführliche Seite zur Vertiefung.

Fazit: Nur wenn Managementforschung auch die immateriellen Werte berücksichtigt – die die Gründe verdeutlichen, warum Menschen wie handeln – ist sie so ganzheitlich und praxisorientiert, wie eigentlich nötig. Nach unserer Überzeugung nähern wir uns dann auch mit wissenschaftlichem Nachdenken an das Phänomen „Weisheit“ an – und damit an geisteswissenschaftliche und philosophische Begriffe. Daher enthält das Buch auch einen philosophisch-theologischen Anhang.

Abschließend noch ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer: „Weisheit ist etwas anderes als Wissen und Verstand und Lebenserfahrung. Weisheit ist das Geschenk, den Willen Gottes in den konkreten Aufgaben des Lebens zu erkennen“ (Vgl. Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, Gütersloher Verlagshaus 1996.)